Marxismus-Leninismus: Über den dialektischen und historischen Materialismus

Marxismus-Leninismus: Über den dialektischen und historischen Materialismus
Marxismus-Leninismus: Über den dialektischen und historischen Materialismus
 
Als »Marxismus-Leninismus« bezeichneten die kommunistischen Regierungsparteien der Sowjetunion und der von ihr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kontrollierten Staaten Osteuropas und Asiens die weltanschauliche Lehre, die sie sich zur ideologischen Rechtfertigung ihrer Herrschaftsansprüche selbst geschaffen hatten. So geht der Begriff »Marxismus-Leninismus« auf Stalin zurück, der seit 1922 die neu geschaffene Position eines Generalsekretärs der »Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki)« innehatte und später zum unumschränkten Alleinherrscher der Sowjetunion aufstieg. Stalin prägte zunächst im Jahr 1924, unmittelbar nach dem Tod Lenins, des Begründers der aus der Oktoberrevolution in Russland 1917 hervorgegangenen Sowjetunion, den Begriff des »Leninismus« als eine geschichtsphilosophisch notwendige Weiterentwicklung des »Marxismus« des 19. Jahrhunderts. Stalin definierte den Marxismus-Leninismus als den »Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution« und präzisierte den politisch-strategischen Inhalt dieses Begriffs, indem er feststellte, Marxismus-Leninismus sei »die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution im allgemeinen, die Theorie und Taktik der Diktatur des Proletariats im besonderen.«
 
Mit dieser politisch motivierten Neuschöpfung eines Marxismus-Leninismus knüpfte Stalin an Entwicklungen an, die unter dem Einfluss Lenins bestrebt waren, die Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels zu einem Instrument der Propaganda und einer Strategie der Machtgewinnung umzuformen. Lenin hatte sich in seinem 1908 verfassten Buch »Materialismus und Empiriokritizismus« mit den philosophischen Lehren von Ernst Mach und Richard Avenarius auseinander gesetzt, die die erkenntnistheoretische Auffassung vertraten, dass die objektive Realität der Welt aus den subjektiven »Empfindungen« als den Elementen alles Wirklichen bestehe. Gegen diese in der Tradition eines subjektiven Idealismus von George Berkeley und David Hume wurzelnden Theorie des Empiriokritizismus stellte Lenin die Theorien von Marx und Engels, die er als »dialektischen Materialismus« bezeichnete, obwohl der Begriff so weder bei Marx noch bei Engels vorkam. Lediglich Engels hatte in seinem Spätwerk von einer »materialistischen Dialektik« gesprochen, um die von ihm und Marx im Anschluss an Hegel gewählte Methode der Kritik der politischen Ökonomie näher zu bezeichnen. Lenin beabsichtigte mit der Wahl des schon 1891 durch Georgij Plechanow vorgeprägten Begriffs eines »dialektischen Materialismus« zur Kennzeichnung der Positionen der marxistischen Lehre, diese gegen den naturwissenschaftlich argumentierenden Vulgärmaterialismus des 19. Jahrhunderts ebenso abzugrenzen wie gegenüber den russischen Anhängern von Mach.
 
In der Sache ging es Lenin jedoch weniger um einen Beitrag zur Diskussion der philosophischen Erkenntnisproblematik als vielmehr darum, dem Streben seiner bolschewistischen Kaderpartei nach Erringung der politischen Macht eine geschlossene weltanschauliche Grundlage zu geben, die auch propagandistisch zu nutzen war. Hierbei kommt es - verglichen mit den Ausgangsprämissen der Theorien von Marx - zu einer inhaltlichen Verschiebung des Schwergewichts: Die Theorie einer philosophisch angeleiteten Kritik der bürgerlichen Ökonomie wurde zu einer Theorie der Natur und der Prinzipien ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis. Dies führte zu dem Ergebnis, dass die von der leninistischen Weltanschauung vertretene Lehre von den »Gesetzen der Geschichte« zum Anwendungsfall umfassender »Gesetze der Natur« herabgestuft werden. Auf diesem Weg sollte die Politik der »Partei der Arbeiterklasse«, die für sich reklamierte, die »Gesetze der Geschichte« lediglich anzuwenden und auszuführen, eine (vermeintlich) wissenschaftliche Grundlage und auf diesem Wege eine ideologische Rechtfertigung erhalten.
 
Nach der Revolution in Russland und nach der Konsolidierung des Machtanspruchs der kommunistischen Partei unterlag die als »dialektischer Materialismus« bezeichnete marxistische Theorie ebenfalls einem Transformationsprozess: War sie von Lenin als ein Instrument der Durchsetzung der Revolution und der Gewinnung der politischen Macht in Russland benutzt worden, so bildete sie Stalin zu einem Mittel der ideologischen Sicherung seiner Herrschaft und der staatlichen Repression gegen Andersdenkende um. Die ab jetzt »Marxismus-Leninismus« genannte Parteiideologie wurde zur umfassenden Weltanschauung ausgebaut. Dementsprechend konzipierte etwa der von Stalin geförderte sowjetische Philosoph Mark Borisowitsch Mitin den Marxismus-Leninismus als eine einheitliche Theorie, die aus drei miteinander »organisch« verbundenen Lehrstücken besteht: An erster Stelle sollten die von Mitin als »dialektischer und historischer Materialismus« bezeichneten Theorien von Marx und Engels stehen, die auch die philosophische Grundlegung des gesamten Systems des Marxismus-Leninismus genannt werden.
 
Als theoretisches Fundament soll diese »wissenschaftliche Philosophie« die allgemeinsten Gesetze der Natur, der menschlichen Erkenntnis, der Geschichte und des gesellschaftlichen Lebens behandeln. Der Philosophie folgt im System des Marxismus-Leninismus an zweiter Stelle die Wirtschaftslehre, die abweichend von der Marxschen Terminologie auch selbst als die »politische Ökonomie« bezeichnet wird. Für diese Lehre der Ökonomie ist es kennzeichnend, dass sie nun verbindlich sein soll in der Form der politisch-strategisch begründeten Weiterentwicklung der Ökonomiekritik Marx' durch Lenin. Zu den Hauptbestandteilen dieser Wirtschaftslehre zählen die ökonomischen Bewegungsgesetze der kapitalistischen Marktwirtschaft, der vermeintlich gelungene Nachweis bezüglich der produktiven Rolle des Proletariats bei der Aufhebung der Klassengesellschaft sowie die Darlegung der historisch-ökonomischen Notwendigkeit, mit der der Kapitalismus durch die Diktatur des von der Partei geführten Proletariats abgelöst wird. Der ökonomischen Lehre folgt als dritter Bestandteil des Marxismus-Leninismus unter anderem die als »wissenschaftlicher Kommunismus« bezeichnete Theorie der praktischen Verwirklichung der Ziele der kommunistischen Partei. Hierzu zählen Fragen der Strategie und Taktik bei der Vorbereitung und Durchführung von Revolutionen in nichtsozialistischen Ländern sowie konkrete Probleme beim Aufbau des Sozialismus.
 
Nach diesem Schema: Philosophie, Ökonomie und Politik waren im gesamten Herrschaftsbereich der moskautreuen kommunistischen Staatspartei seit der Regierungszeit Stalins die offiziellen Lehrbücher aufgebaut, die im Namen des Staates an den Schulen und Hochschulen, in den Betrieben und beim Militär in die Weltanschauungslehre des Marxismus-Leninismus einführen sollten. Auch das bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik verbindliche »Philosophische Wörterbuch« folgt dieser Grundstruktur des parteioffiziellen »Marxismus« stalinscher Prägung im 20. Jahrhundert. In dieser Hinsicht hat eine wirklich umfassende »Entstalinisierung« der Grunddogmen im Herrschaftsbereich der Sowjetunion niemals stattgefunden. Neben dieser Weltanschauung wurden keine abweichenden Meinungen als gleichwertig in der Öffentlichkeit geduldet. Wer sich als Staatsbürger der sozialistischen Staaten nicht den Grunddogmen dieser Lehre unterwarf, wurde als Gegner des politischen Systems behandelt; Gegner dieser »wissenschaftlich« genannten Doktrin aber konnten der Lehre entsprechend nur entweder dumm oder aber bösartig sein. Dieser Alternative entsprang denn auch deren Behandlung mithilfe der Doppelstrategie: Umerziehung oder Gefängnis, Propaganda oder Liquidation.
 
Der Instrumentalisierung der Lehren von Marx und Engels im Dienste der Machtgewinnung und des Machterhalts der leninistischen Kaderparteien wurde allerdings nicht nur von nichtmarxistischer Seite, sondern auch im Namen der Theorien von Marx selbst widersprochen. Zu den Vertretern dieser Kritik am herrschenden Marxismus-Leninismus zählen unter anderem der frühe Georg Lukács, der italienische Philosoph Antonio Gramsci, die französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre, Ernst Bloch sowie die Philosophen im Umfeld des Frankfurter »Instituts für Sozialforschung« wie Max Horkheimer und Herbert Marcuse.
 
Prof. Dr. Dr. Matthias Lutz-Bachmann
 
 
Brentel, Helmut: Soziale Form und ökonomische Kategorie. Zur Aktualität der Marxschen Kritik. Frankfurt am Main 1988.
 Flechtheim, Ossip K. und Lohmann, Hans-Martin: Marx zur Einführung. Hamburg 21991.
 
Geschichte der Philosophie, herausgegeben von Wolfgang Röd. Band 10: Die Philosophie der Neuzeit. Teil 4. Positivismus, Sozialismus und Spiritualismus im 19. Jahrhundert. München 1984—89.
 Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.
 Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland 1831—1933. Frankfurt am Main 51994.

Universal-Lexikon. 2012.

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